Preisträger 2009

Der Edith-Stein-Preis 2009 wurde an Schwester Karoline Mayer verliehen .   


Der Göttinger Edith-Stein-Kreis würdigt mit dem Edith-Stein-Preis 2009 das Lebenswerk von 
Sr. Karoline Mayer
(Santiago/Chile), die sich seit über 40 Jahren zunächst in Chile, später auch in Bolivien und Peru solidarisch der Ärmsten der Armen annimmt. 

Inspiriert durch die Theologie der Befreiung hat Sr. Karoline in ihrem Leben nationale, kulturelle und gesellschaftliche Grenzen überschritten und lebt als Christin und Gründerin der Schwesterngemeinschaft ‚Comunidad de Jesús’ sowie als Seelsorgerin einer Basisgemeinde überzeugend die frohe Botschaft des Evangeliums im Dienst an den Armen.

Während der Zeit der Militärherrschaft Pinochets in Chile blieb sie als Ordensfrau an der Seite der Armen, kämpfte für die Menschenrechte und nahm teil am passiven Widerstand gegen die Diktatur.

Im Dienst für die Grundrechte der Armen und die Anerkennung ihrer Würde führt Sr. Karoline Menschen in ökumenischer Geschwisterlichkeit zusammen. Ausgehend von den konkreten Bedürfnissen der Armen und in der Zusammenarbeit mit ihnen schuf sie mit der Gründung der Fundación Cristo Vive Grundlagen für ein Leben in Gerechtigkeit und Solidarität.

20. Mai 2009
für den Vorstand des Göttinger Edith-Stein-Kreises e.V. 
Heiner J. Willen, Vors.

Zu Texten und Fotos der Preisverleihung am 15.11.2009.   

  • Begrüßung durch Herrn Heiner J. Willen  
    Vorsitzender des Edith-Stein-Kreises Göttingen
  • Grußworte von Dr. Katharina Seifert, Freiburg, 
    Präsidentin der Edith-Stein-Gesellschaft Deutschland e. V.
  • Grußworte von Wilhelm Gerhardy,
    Bürgermeister der Stadt Göttingen
  • Laudatio von Prof. Dr. Annette Schavan, Berlin
    Bundesministerin für Bildung und Forschung 
  • Die Urkunde   (317kB als PDF) *)   
  • weitere Fotos der Preisverleihung 
  • Dankesworte von Schwester Karoline  
  • Einladung zur Begegnung 
  • Pressebericht (kpg)

Radiobericht anhören    ca. 3 Minuten 
Das Gespräch führte Bastian Brandau vom Stadtradio Göttingen. 
Dank für die Überlassung des Beitrages. 
Mit Programm, z. B. Windows Media Player anhören 
und evtl. Lautstärke anpassen.

Radiointerview anhören   ca. 5 Minuten
Das Gespräch führte Bastian Brandau vom Stadtradio Göttingen. 
Dank für die Überlassung des Beitrages. 
Mit Programm, z. B. Quicktime Player oder Windows Media Player anhören 
und evtl. Lautstärke anpassen.  

Lebenlauf von Sr. Karoline Mayer 

Informationen über das Wirken von Sr. Karoline  www.cristovive.de/     dirket zu vielen Fotos der Preisverleihung:  www.cristovive.de/Edith-Stein-Preis/index.htm   


Eröffnung und Begrüßung

Eröffnung und Begrüßung 

durch Herrn Heiner J. Willen

Vorsitzender des Edith-Stein-Kreises Göttingen

 

Einen guten Abend und 
Ihnen allen ein herzliches Willkommen, 
meine sehr verehrten Damen und Herren, 
zur 8. Verleihung des Edith-Stein-Preises.

Vor einer Woche wurde ein in Santiago / Chile geborener deutscher Jesuit bei uns in Göttingen zum Priester geweiht. Heute wird der Edith-Stein-Preis an eine deutsche Schwester verliehen, die in Santiago lebt und seit 2001 auch chilenische Staatsbürgerin ist. Der 31-jährige Jesuit, der als Kleinkind in den Straßen von Santiago ausgesetzt und später von deutschen Eltern adoptiert wurde, hat auf seinem Primizandenken drei Bilder – eines zeigt Edith Stein. Die Schwester, die ein Jahr nach Edith Steins Tod geboren wurde, sagt, als sie erfährt, dass ihr dieser Preis verliehen werden soll: sie habe schon lange eine besondere Beziehung zu dieser Heiligen.

Was ist das mit Edith Stein, dass sie noch 67 Jahre nach ihrem Tod in der Gaskammer von Auschwitz Menschen ansprechen kann? Es sind zweifellos ihre spirituellen und theologischen Texte, die Menschen faszinieren. Es ist aber auch ihr Leben und ihr Kämpfen, das eindrücklich zu sein scheint.

In einer jüdischen Familie in Breslau geboren, verliert sie mit zwei Jahren den Vater. Als Pubertierende tauscht sie ihren „Kinderglauben“ gegen „radikalen Unglauben“. Im Studium in Breslau wird sie Mitglied des Vereins für Frauenstimmrecht. Die Themen Frauenemanzipation und Mädchen- und Frauenbildung werden sie ihr Leben lang begleiten. Als Edith Stein durchsetzt, dass sie mit 21 Jahren 1913 nach Göttingen kommen kann, will sie im Schwerpunkt Philosophie – Phänomenologie - studieren. Sie will Wahrheit finden! Mit ihren Freundinnen und Freunden aus der Göttinger Philosophischen Gesellschaft bleibt sie bis zu ihrem Tod verbunden, Edith Stein will es ihr Leben lang wissen – sie kniet sich in die Arbeit. Über Jahre hinweg studiert, diskutiert, kämpft sie – bis ihr Weg zur Wahrheit sie zur Taufe und dann in den Karmel führt. Sie ist eine starke Frau!

Kurz bevor sie 1933 als Novizin in den Karmel eintritt, schreibt sie einer Freundin: „Aber den Abschied darf ich mir gar nicht ausmalen... Wenn auch meine Mutter jetzt der Überzeugung ist, dass sie mich lieber in Südamerika an einer Schule wüsste als hier im Kloster, so glaube ich doch, dass das später wesentlich anders aussehen wird.“ In der Tat: Edith Stein hatte ein Angebot erhalten, an eine Schule in Südamerika zu gehen. Aber ihre Entscheidung für den Kölner Karmel war bereits gefallen. Sie geht ihren Weg, auch wenn engste Familienmitglieder nicht einverstanden sind: ihre Mutter etwa hat sich nie mit dem Kloster versöhnt.

In Göttingen hat der Weg dieser bis heute beeindruckenden Frau in den Jahren 1913 bis 21 ganz wichtige Impulse bekommen. Und der Göttinger Edith-Stein-Kreis hat es sich zur Aufgabe gemacht, an das Leben und Werk dieser außergewöhnlichen Frau und Alumna der Georg August Universität zu erinnern. Der – seit 1995 - alle zwei Jahre vergebene Edith-Stein-Preis ist dabei für uns besonders bedeutsam geworden. Und für Sie offensichtlich auch, die Sie so zahlreich gekommen sind.

Ich kann Sie leider nicht alle persönlich begrüssen, was ich gerne tun würde. So werde ich mich beschränken.

Mein besonderer Gruß gilt natürlich Sr. Karoline Mayer, der heute Abend der Edith-Stein-Preis verliehen wird. Ich freue mich sehr, Karoline!

Ich grüsse herzlich ihre Laudatorin Prof. Dr. Annette Schavan. Ganz herzlichen Dank, dass Sie aus Berlin zu uns gekommen sind. Wir werten es als Auszeichnung für unsere Preisträgerin.

Grüssen möchte ich auch Joop Bergsma, Edith-Stein-Preisträger `97 und bis heute in der Stadt geschätzt, in der er von ´76 bis `86 Dechant war. Schön, dass Du heute Abend hier bist, lieber Joop.

Gleichzeitig darf ich Ihnen Grüsse von Prof. Eduard Lohse überbringen, den Preisträger von 1995. Er hat zu seinem Bedauern eine dringende Verpflichtung in Hamburg.

Traurig sind auch die Wülfinghäuser Schwestern, Preisträgerinnen des Jahres 2007. Sie hatten sich riesig gefreut, mit uns diese Preisverleihung zu feiern – aber: die Schweinegrippe hat den ganzen Konvent ins Bett geschickt, so dass das Kloster komplett geschlossen werden musste.

Ich freue mich sehr, dass Prälat Heinz Voges unter uns ist. Er hat als Dechant in Göttingen Anfang der 90ger Jahre den Edith-Stein-Preis begründet. Ihm (Ihnen) und allen, die uns bei der Vorbereitung und Durchführung der Preisverleihung geholfen haben – im Kuratorium, durch Spenden, beim Planen, Gestalten und beim Mit-Hand-Anlegen - sei ganz herzlich Dank gesagt!

Mit Ihnen allen, den Göttingerinnen und Göttingern, den Menschen aus nah und fern, den Mitgliedern und Unterstützern des Edith-Stein-Kreises und den Freundinnen und Freunden von Sr. Karoline feiern wir heute Abend zwei Frauen, die für Grenzüberschreitung und Solidarität, für den Kampf um die Rechte von Frauen und die Suche nach Wahrheit, die für Bildung und Menschenwürde stehen.

Heiner J. Willen 15.11.2009

 

Grußwort der Präsidentin 

der Edith-Stein-Gesellschaft Deutschland,

Dr. Katharina Seifert,
anlässlich der Verleihung des Göttinger Edith-Stein-Preises an
Sr. Karoline Mayer, Santiago (Chile)
am 15. November 2009 im Alten Rathaus Göttingen

Foto: Karl Grüner

Sehr geehrte Frau Ministerin Dr. Schavan,
sehr geehrte Sr. Karoline,
sehr geehrter Herr Bürgermeister Gerhardy,
sehr geehrter Herr Willen,
meine sehr geehrten Damen und Herrn, liebe Festversammlung,

„Der Weg in die Freiheit“ – so lautete der Titel einer Exerzitienreise, von der ich am letzten Sonntag aus der Wüste Sinai und Israel zurückgekehrt bin. Durch die Betreuung der Beduinen – sie stellten uns Kamele zum Tragen des Reisegepäcks aber auch der Menschen zur Verfügung, sie versorgten uns mit Wasser und Nahrung – kam so etwas wie eine Wüstenromantik auf. Die Sonne war nicht zu heiß. Der zunehmende Mond überstrahlte selbst die Nacht. Die Landschaft zeigte sich uns höchst abwechslungsreich, immer wieder überraschend. Murren kam nur auf, weil die Zeit so schnell zu Ende gegangen war.

Das Volk Israel musste 40 Jahre ohne Beduinenservice aushalten, aber wusste den „Ich bin da“ an seiner Seite. Die Freiheit galt es zu erlangen durch große Zweifel und tiefste Verzagtheit hindurch. In der Not wünschten sich die Israeliten zurück an die Fleischtöpfe ihrer ägyptischen Unterdrücker. Sie haben sogar das Manna, die Gabe Gottes, satt. Sie haben Gott satt! Wo bleibt das Vertrauen in den „Ich bin da“?

Was gilt es wirklich auf dem Weg in die Freiheit zu bestehen? Wohl zuerst sich selbst mit allen Ängsten und Zweifeln, festgelegten Vorstellungen und festgelegten Ansichten: Fremdes Land, fremde Landschaft, wildfremde Menschen, Muslime… Im deutschen Kontext würden wir, zumindest innerlich, einen Schritt zurücktreten. In der Fremde waren wir auf sie angewiesen, sicherten uns die Fremden unser Leben, vertrauten wir uns Menschen einer fremden Religion an. Also irgendwie doch ein Wagnis. Gleichsam ein Urvertrauen kam in uns auf. Und ein Staunen darüber. Ein tiefes Glück über solche Erfahrung innerer Freiheit.

Auf dem Kamelrücken wurde mir bewusst, dass ich persönlich bereits einen Weg in die äußere Freiheit erleben durfte mit dem Fall der Mauer am 9. November 1989 und der deutschen Wiedervereinigung am 3. Oktober 1990. Zwanzig Jahre ist das her. In kirchlichen Kreisen wurden die 40 Jahre DDR-Zeit immer wieder mit den 40 Jahren Wüstenwanderung des Volkes Israel verglichen. Verse des Psalms 126 drängten sich unabgesprochen auf die Lippen:

"Als der Herr das Los der Gefangenschaft Zions wendete,

da waren wir alle wie Träumende.

Da war unser Mund voll Lachen

und unsere Zunge voll Jubel.

Da sagte man unter den Völkern:

’Großes hat der Herr an uns getan’.

Ja, Großes hat der Herr an uns getan.

Da waren wir fröhlich."

Tränen und Jubel – so war es als die Angst wich, die lähmend über 40 Jahren gelegen hatte.

In der Bibel steht, dass der Psalm ein „Wallfahrtslied“ ist. Die Flüchtenden und die Demonstrierenden brachen gemeinsam die Starre im Arbeit- und Bauernstaat auf der Straße auf.

Das Wallfahrtslied schließt mit dem Vers: „Sie kommen wieder mit Jubel und bringen ihre Garben ein.“ Somit ist es auch ein Erntedanklied. So viele Früchte sind gewachsen. Wir dürfen, wir müssen diese Lied Jahr für Jahr singen und die Zukunft auf diesem Grund dankbar gestalten.

Als wir aus der Wüste nach Hause kamen, wurde in Deutschland ein „Fest der Freiheit“ gefeiert. Viele europäische Städte schlossen sich auf ihre Weise an.

Der Vorsitzende der Deutschen Bischofkonferenz, Erzbischof Robert Zollitsch sagte anlässlich des diesjährigen Michaelsempfangs – nicht zuletzt aus eigener Erfahrung:

„Freiheit und Demokratie sind niemals selbstverständlich. Wer nie selbst die Erfahrung der Unfreiheit gemacht hat, übersieht das leicht; denn mit der Freiheit ist es wie mit der Luft zum Atmen: Man wird sich ihrer oft erst bewusst, wenn sie einem genommen wird.“ 1)

Während der Wüstenwanderung wurde mir aber auch deutlich, dass neben der äußeren Freiheit die innere Freiheit einen mindestens ebenso großen Wert darstellt. Und, dass innere Freiheit ermöglicht, äußere Unfreiheit zu bestehen. Dass innere Freiheit dazu befähigt, Entscheidungen zu treffen, die andere Menschen unverständlich finden müssen. Dass innere Freiheit Kräfte freisetzt, die überaus staunenswert sind und die auf das verweisen, was wir tiefstes Vertrauen, Glauben, Einsseins mit Gott nennen.

Edith Stein war eine Frau, die zu dieser vollkommenen inneren Freiheit gefunden hat. „Secretum meum mihi“. „Das ist mein Geheimnis“. Die Worte, dieses innere Vorgehen, diese innere Freiheit zu beschreiben, sind ihr ausgegangen. Gott war nicht im Sturm, nicht im Beben, nicht im Feuer. Gott war „eine Stimme verschwebenden Schweigens“, wie Martin Buber das Erleben des Propheten und Karmelvaters Elija formuliert und wie wir die Gotteserfahrung Edith Steins auch beschreiben können.

Dieser Glaube, dieses Urvertrauen lässt sie 1942 - innerlich ruhig, wie es Zeugen beschreiben - bis zum Äußersten in die Ermordung in Auschwitz gehen. Die innere Freiheit der Gotteskindschaft schenkt ihr unabhängig von äußeren Umständen Kraft, Würde, Vertrauen, Nächstenliebe - bis zum Schluss. Sr. Teresia Benedicta a Cuce schreibt in der Kreuzeswissenschaft: Es ist dem Menschen „sein Innerstes in die Hand gegeben; er kann in vollkommener Freiheit darüber verfügen, aber er hat auch die Pflicht, es als ein kostbares anvertrautes Gut zu bewahren.“ 2)

Im Tal der Gemeinden in Yad Vashem stand ich am Allerheiligen-Tag und Vorabend von Allerseelen vor den unzähligen Ortsnamen der zerstörten jüdischen Gemeinden in Deutschland und Europa: Köln, Freiburg, Speyer, Breslau, Göttingen…

Ich war allein dort.

Vor dem Felsen, der auf Kiew verwies, traf ich auf eine Gruppe Kanadier, die ihrer Opfer mit Liedern, Texten und Kränzen gedachten und mit einer Rose und einer Kerze in der Hand. Als ich hinzutrat, gab mir ein Mann seine Rose und seine Kerze und bedeutete mir, sie an dem Ort, der für mich bedeutend ist, niederzulegen. Ich gedachte besonders der Opfer der Dresdner Synagogengemeinde.

Die innere Freiheit führt zu „höchstem Widerspiel von Geben und Sich-Nehmen-Lassen“. 3)

Heute wird eine Frau geehrt, deren Handeln selbstlos ist, die bei äußerer Unfreiheit in Zeiten der chilenischen Diktatur ihre innere Freiheit bewahrt und ihr Wirken und Leben den Armen widmet: Geben und Sich-Nehmen-Lassen und den Menschen aus innerer Freiheit Würde und Nächstenliebe schenken.

Sehr geehrte Sr. Karoline,

mit diesen Gedanken grüße ich Sie herzlich und übermittle Ihnen im Namen der Edith-Stein-Gesellschaft Deutschland Glück- und Segen. Möge Ihr Weg in die innere Freiheit von Gott geführt sein zum Wohl der Menschen, die Ihnen anvertraut sind und zu Ihrem persönlichen Wohl.

Dieser Olivenzweig aus einem Garten vom Ölberg in Jerusalem möge ein Symbol dafür sein. Schalom!

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1)  Pressemitteilung der DBK, 29.09.09, 125a, Verantwortung stärken – Freiheit sichern. Überlegungen am Beginn einer neuen Legislaturperiode, Rede des Vorsitzenden der DBK, anlässlich des St.-Michael-Jahresempfangs des Kommissariats der deutschen Bischöfe am 29. September 2009 in Berlin.

2)  E. Stein, Kreuzeswissenschaft, ESGA 18, 133f.

3)  A. M. Neyer und H.-B. Gerl-Falkovitz, Meister des Weges, Edith Stein, Freiburg 1994, 66.

Ein herzlicher Dank an Frau Dr. Seifert nach ihren Grußworten. (Foto: Karl Grüner )

Grußwort

Wilhelm Gerhardy, Bürgermeister der Stadt Göttingen

Edith-Stein-Preis 2009: Sonntag, 15. November 2009; 18:00 Uhr, Altes Rathaus.

Frau Bundesministerin Dr. Schavan,
Herr Vorsitzender Willen,
Herr Landrat Ströhlein,
Sehr verehrte Damen und Herren!
Ihnen allen ein herzliches Willkommen im Festsaal des Alten Rathauses zur Verleihung des Edith-Stein-Preises 2009.

Mit besonderer Freude darf ich Sie – verehrte Schwester Karoline Mayer - als diesjährige Preisträgerin in der Stadt Göttingen begrüßen.

Die Namensgeberin des Preises, Edith Stein, ist in Göttingen keine Unbekannte mehr: 
ein Verdienst des Edith-Stein-Kreises, wofür ich mich ausdrücklich bedanken möchte.

In Breslau 1891 in einer jüdischen Familie geboren, konvertiert Edith Stein 1922 zum katholischen Glauben und wird in Bergzabern getauft. Als Schwester Teresia Benedicta a Cruce tritt sie 1933 in Köln in den Karmeliterorden ein, siedelt 1938 um ins niederländische Echt, um vor den Nationalsozialisten sicher zu sein. Trotzdem wird sie am 2. August 1942 verhaftet und am 9. August '42 in Auschwitz-Birkenau ermordet, gerade 51 Jahre alt. Am 11. Oktober 1998 erfolgt die Heiligsprechung, 1999 wird sie zur Patronin Europas ernannt. Nach Göttingen zieht es die Philosophie-Studentin 1913, um bei Edmund Husserl – Professor der Philosophie – Phänomenologie zu studieren. Sie lernt, wie sie selbst sagt, „Dinge vorurteilsfrei ins Auge zu fassen“.

Nach dem Staatsexamen 1915 folgt Sie Husserl nach Freiburg um 1916 mit „summa cum laude“ zu promovieren. Sie strebt eine Habilitation an. Auch mit einer Empfehlung von Husserl lehnt die Göttinger Philosophische Fakultät ab, ihre Arbeit auch nur anzusehen.

„Frauen seien nicht zugelassen“ – hieß es. Edith Stein will es wissen: das preußische Kultusministerium bestätigt ihr, dass Frauen grundsätzlich zu Habilitation und damit zu einer Professur zugelassen zu seien. „Verspreche mir aber praktisch nichts davon“, so Edith Stein wörtlich, „das war nur ein Nasenstüber für die Göttinger Herren“- Sie ebnete damit aber anderen begabten Frauen den Weg.

Göttinger Stadtführungen zum Thema „Auf den Spuren Edith Steins“ führen zu einer Vielzahl von Orten und Plätzen, mit denen Edith Stein in Verbindung stand. Von der Gedenktafel, angebracht an ihrer ersten Wohnung in der Langen Geismarstraße 2 bis hin zum Edith-Stein-Haus der Katholischen Hochschulgemeinde am Stauffenbergring; oder vielleicht auch die Konditorei Cron und Lanz, wo sie in fröhlicher Runde das Bestehen des Staatsexamens feierte.

Der Preis – verehrte Schwester Karoline – der ihnen heute überreicht wird, würdigt Persönlichkeiten, die sich durch Grenzüberschreitungen in ihrem sozialen, politischen und gesellschaftlichen Engagement in hervorragender Weise ausgezeichnet haben.

Es sind nicht wenige Grenzen, die Sie auf Ihrem mutigen, selbstlosen und gefährlichen Weg überschritten haben: von der strengen römischen Amtskirche zu einer Theologie der Befreiung, Austritt aus dem Steyler-Missionsorden und Gründung der „Comunidad de Jesus“, vom Wohlstand in die Elendsviertel von Chile, Peru und Bolivien, vom sicheren Europa in das Chile der Militärherrschaft Pinochets.

Ein besonderes Zeichen von Mut und Gottvertrauen, was nur ganz wenigen gelingt, ist der Kampf für die Menschenrechte und der passive Widerstand gegen die Diktatur.

Eine soeben erschienene Dokumentation fasst es wunderbar zusammen:

-          Schwester der Armen

-          Anwältin der Rechtlosen

-          Botschafterin der Liebe

Göttingen ist nicht gerade arm an Preisen und Preisträgern: Vom Nobelpreis bis zum Göttinger Elch als Satire-Preis, von der wissenschaftlichen Auszeichnung bis zum Literaturpreis, den die polnische Stadt Thorn und die deutsche Stadt Göttingen gemeinsam vergeben.

Der Edith-Stein-Preis ist anders, - und er ist sehr wichtig, weil er sich nicht an diejenigen wendet, die ohnehin weltweit gefeiert und beachtet werden, so groß die Verdienste auch seien mögen.

Dieser Preis zeichnet Menschen aus, die durch ihr Tun etwas verändern, die die Welt verändern, und die uns durch ihr Beispiel mahnen, zu erkennen, wie viel jeder Einzelne in seiner Welt tun kann – und es doch viel zu oft unterlässt.

Wir freuen uns, dass es diesen Preis gibt, dass es ihn in Göttingen gibt und wir freuen uns ganz besonders, dass Sie – verehrte Schwester Karoline – diesen Preis bekommen.

Im Namen der Stadt Göttingen gratuliere ich sehr herzlich!

Foto: Karl Grüner

Laudatio

Die Laudatio auf die Preisträgerin hielt Frau Prof. Dr. Annette Schavan, 
Bundesministerin für Bildung und Forschung

Frau Ministerin A. Schavan bei ihrerer Laudatio (Foto: Karl Grüner)

Rede
der Bundesministerin für Bildung und Forschung,
Prof. Dr. Annette Schavan, MdB,

anlässlich

der Verleihung des Edith Stein Preises

an Schwester Karoline Mayer

 

am 15. November 2009

in Göttingen

 

Es gilt das gesprochene Wort!

I.

„Unsere Menschenliebe ist das Maß unserer Gottesliebe. Für die Christen – und nicht nur für sie – gibt es keine fremden Menschen. Die Liebe Christi kennt keine Grenzen.” So formuliert Edith Stein den Auftrag und Anspruch christlichen Lebens. „Unsere Menschenliebe ist das Maß unserer Gottesliebe“ – dieser Satz findet sich auch auf der Medaille, mit der heute Schwester Karoline Mayer ausgezeichnet wird. „Die Liebe Christi kennt keine Grenzen“ – wir ehren heute eine Frau, die immer wieder Grenzen überschritten hat und deren Nächstenliebe keine Grenzen kennt.

Schwester Karoline Mayer ist aus Santiago de Chile heute zu uns nach Göttingen gekommen. Wir zeichnen Sie aus mit dem Göttinger Edith-Stein-Preis – für Ihr soziales, politisches und gesellschaftliches Engagement, für Ihren Einsatz für die Menschen in Chile, Bolivien und Peru.

Der unbedingte Wille, dem eigenen Weg zu Gott zu folgen – auch gegen Widerstände – zeichnet beide Frauen aus. Edith Stein geht ihren Weg zu Gott in der Stille des Karmels. Schwester Karoline geht ihn in den Armenvierteln einer pulsierenden lateinamerikanischen Metropole, Santiago de Chile. Sie geht ihn mit den Ärmsten der Armen.

 

II.

Karoline Mayer kommt aus Bayern. Sie wird zwei Jahre vor Kriegsende in Pietenfeld, nahe Eichstätt geboren. Schwester Karoline, in ihrem Herzen sind sie Lateinamerikanerin. Man spürt es in Ihrer Art der Begrüßung, Ihrem Temperament und der Überzeugungsstärke Ihrer Gestik. Dieser Kontinent ist Ihr Zuhause. Die Menschen in Chile sind Ihre Heimat.

Seitdem sie elf Jahre sind, wissen Sie, dass Sie Missionarin werden wollen. Sie kämpfen um Ihren Weg in das Kloster der Steyler Missionarinnen. Mit 21 Jahren treten Sie als Novizin in den Steyler Missionsorden ein und erhalten den Ordensnamen Paulina. 1967 legen Sie die zeitlichen Gelübde ab.

Als Kind träumt Karoline Mayer von einem Leben in China oder Indien. 1968 wird sie von ihrem Orden nach Südamerika, nach Chile gesandt. Wenn schon Chile, dann will sie nicht in Las Condes, dem eleganten Viertel der Wohlhabenden leben, sondern mit den Armen. Sie will nicht Verkündigung an den katholischen Eliteschulen Santiagos betreiben. Sie will Medizin studieren und Ärztin werden. Doch der Orden ist dagegen. So macht sie ihren Abschluss als Universitätskrankenschwester. Sie bleibt bei diesem Beruf, auch als sie später selbst über ein Medizinstudium entscheiden kann, verzichtet sie. Um der Menschen willen.

In den Semesterferien arbeitet Schwester Karoline in einer illegal auf einem Müllhügel errichteten Siedlung am Rande Santiagos. Die Menschen leben im Müll. Sie leben vom Müll. Dort erfährt sie, dass Hilfe nur gemeinsam gelingen kann. Nur wenn wir die Menschen als Partner ernst nehmen, erreichen wir eine echte und nachhaltige Verbesserung ihrer Lebenssituation. Gemeinsam mit den Frauen aus der Siedlung bettelt sie bei Supermärkten um Lebensmittel. Gemeinsam eröffnen sie eine Volksküche. Gemeinsam mit Müttern und Vätern bauen sie Kindertagesstätten auf.

Gemeinsam lesen sie in den Basisgemeinden das Evangelium. Die nachkonziliare Aufbruchstimmung und die Befreiungstheologie prägen sie dabei stark. In ihrem Buch „Das Geheimnis ist immer die Liebe“ schreibt sie von ihren Erlebnissen der gemeinsamen Bibellektüre mit den Menschen aus der Siedlung: „Ich hatte gedacht, ich würde ausziehen, um die Armen zu bekehren. Und da saß ich unter ihnen und musste erfahren, dass sie mir zeigten, was wahre Jesusnachfolge ist. Wie es ist, sein Wort wirklich so aufzunehmen, dass es das Herz anspricht und der Mensch frei wird. Da saß ich und wurde selbst bekehrt“ (S. 47).

Chile befindet sich Ende der sechziger, Anfang der siebziger Jahre im Aufbruch. Die Menschen träumen von Freiheit und Gleichheit, von Gerechtigkeit und Solidarität. Die sozialen Unterschiede sind enorm. In einer Stadt leben Menschen in vollkommen verschiedenen Welten, die einen sorglos in Wohlstand und Gesundheit, die anderen ohne Perspektive und Chancen in Elend und Armut. Die Ungerechtigkeit ist himmelschreiend. Die Armut ein täglicher Skandal.

Ihr Leben im Kloster erscheint ihr als Widerspruch zu der Wirklichkeit der Armen, als Widerspruch zu ihrer eigenen Berufung. Gegen den Orden setzt Schwester Karoline ihren Willen durch: Am 12. Oktober 1971 – dem Geburtstag Edith Steins – zieht sie mit einer Mitschwester in das Armenviertel. Sie beschreibt diesen Tag als den „glücklichsten Tag meines Lebens“.

Doch der Orden hat andere Pläne mit ihr. 1973 ruft er sie wegen der politischen Unruhen in Chile nach Deutschland zurück. Schwester Paulina gehorcht. Aber sie verlängert nach ihrer Rückkehr nach Deutschland ihre Gelübde nicht. Sie kehrt im gleichen Jahr kurz vor Weihnachten auf eigene Faust zurück nach Chile, mitten hinein in eine grausame Militärdiktatur, die siebzehn Jahre dauern sollte. Sie zieht wieder zu den Armen und gründet dort die Schwesterngemeinschaft „Communidad de Jesús“. Geteiltes Leben mit den Armen und Bedürftigen ist ihre Berufung und ihr Weg.

Während der grausamen Diktatur Augusto Pinochets wird Karoline Mayer 1976 verhaftet und verhört, obwohl sie nie Mitglied einer Partei war. Dem chilenischen Geheimdienst galt sie als gefährliche „Marxistin“, weil sie für soziale Gerechtigkeit kämpft und während der Regierungszeit Salvador Allendes den Sozialisten nahe stand. Doch sie verrät niemanden. Sie bleibt sich treu, und sie bleibt an der Seite der Armen, kämpft für ihre Menschenrechte und nimmt teil am passiven Widerstand gegen die Diktatur. Viele Menschen rettet sie vor dem Gefängnis oder dem sicheren Tod. Sie versteckt Verfolgte, bringt sie außer Landes. Sie widersteht der Angst und der Versuchung aufzugeben.

 

III.

Karoline Mayer begegnet in Chile struktureller Ungerechtigkeit. Sie erlebt Armut als Ergebnis einer segregierten, ungerechten Gesellschaft, als Ausdruck der Unterdrückung ganzer Bevölkerungsschichten durch eine privilegierte Oberschicht. Sie mischt sich ein und erhebt ihre Stimme für die Armen: für mehr Teilhabe, bessere Gesundheitsversorgung, mehr Bildung, mehr Gerechtigkeit.

Mit einer Suppenküche fängt sie ihre Arbeit an. Essen, sauberes Wasser, medizinische Grundversorgung, Bildung, einen Platz in der Gesellschaft – all das für uns so Selbstverständliche hat Karoline Mayer in Santiago für viele Menschen aus den Armenvierteln mühsam erkämpft. Nicht Predigt, sondern Tat ist ihre Losung.

Mit ihrer späteren Mitschwester Maruja baut sie Kindertagesstätten auf. Elternarbeit beginnt. Väter sehen ein, dass sie nicht die eigenen leidvollen Erfahrungen ihrer eigenen Kindheit weitergeben, sondern neu anfangen wollen.

Etwas Neues entsteht, das die Menschen nachhaltig verändert und ihren Biographien eine Wendung gibt. 1975 schon gibt es fünf Kindertagesstätten. Viele Menschen aus der Oberschicht, auch Lehrer der Deutschen Schule kommen und helfen. Mit jeder dieser Begegnungen zwischen Arm und Reich wird die tiefe Spaltung der chilenischen Gesellschaft ein kleines Stück weit überwunden.

Aus den Anfängen, der Suppenküche und den Basisgemeinden entsteht nach und nach ein großes Sozialwerk, aus dem nach dem Ende der Pinochet-Diktatur 1990 die „Fundación Cristo Vive“ wird. Heute zieht sich ein von Schwester Karoline geknüpftes, starkes Netz durch die Hauptstadt Chiles: eine Obdachlosensiedlung, das Berufsbildungszentrum „Clotario Blest“ für 600 Jugendliche, das Reha-Zentrum für junge Drogenabhängige „Talitakum“, Frauenbildungswerkstätten, zwei große Kindertagesstätten für jeweils 300 Kinder, ein Zentrum für 30 behinderte Kinder und Jugendliche und als Herzstück ein Gesundheitszentrum, in dem über 20.000 Patienten kostenlos mit moderner Medizin behandelt werden.

Mit viel Solidarität auch aus Deutschland ist hier etwas entstanden, das den Menschen Perspektiven gibt: mit Bildung ihren Weg aus der Armut zu einem menschenwürdigen Leben zu gehen, aus eigener Kraft und mit eigener Arbeit die Lebenssituation für sich selbst und die eigene Familie zu verbessern, die Erfahrung zu machen, der Armut nicht ausgeliefert zu sein, sondern durch eigene Entscheidung und Anstrengung einen Weg zu einem anderen, besseren Leben zu finden. Die „Fundación Cristo Vive“ hat eine einzige Option: die Option für die Armen. Sie wirkt im besten Sinne nachhaltig, weil sie Menschen befähigt, die eigene Biographie zu gestalten, ihr Leben in die Hand zu nehmen und den Weg aus der Armut zu gehen.

Geistiger Mittelpunkt dieser Arbeit sind die beiden kirchlichen Basisgemeinden Cristo Vive und Jesus Sol Naciente. Für die Menschen dort gehört der „Dienst in der Kirche und der Dienst an den Menschen“ (S. 159) untrennbar zusammen. Gebet und Suppenküche, Bibellesen und soziales Engagement sind miteinander verbunden. Die Verkündigung des Evangeliums ist genauso wichtig wie der Dienst an den Menschen in Solidarität mit den Allerärmsten durch die Kindertagesstätten, Polikliniken und Frauenwerkstätten.

Seit vierzig Jahren leben Sie in Südamerika und haben das Leid unzähliger Menschen dort verwandelt. Die Situation in Chile ist besser geworden. Das Land ist auf einem guten Weg der Entwicklung. Wichtige Sozialreformen haben die Lebenssituation auch der armen Bevölkerung verbessert.

„Cristo Vive“ gibt es inzwischen auch in Bolivien, einem der ärmsten Länder Südamerikas, in dem 70% der Bevölkerung unterhalb der Armutsgrenze leben. In Bolivien begann das Sozialwerk mit einem Gesundheitsprojekt für die Bewohner unzugänglicher Bergdörfer, einem Alphabetisierungsprogramm für Erwachsene, einem Internat für indigene Kinder und einem Betreuungsprogamm für Untersuchungs- und Strafgefangene und deren Familien.

Die Arbeit der „Fundación Cristo Vive“ ist nachhaltig: Das Ausbildungszentrum in Santiago, das der deutschen Berufsschule folgt und einzigartig in Chile ist, wird zu zwei Dritteln vom chilenischen Staat getragen. Im „Prisma de los Andes“, einem Ausbildungszentrum für unabhängige Frauenwerkstätten, lernen junge Frauen innerhalb von drei Jahren ein Kunsthandwerk. In vierzehn Werkstätten können sie anschließend tätig sein, ihre Produkte werden in „Eine-Welt-Läden“ in Deutschland, Luxemburg und der Schweiz verkauft, wo das Bewusstsein für den fairen Handel immer stärker wird.

Entscheidend ist, was diese Arbeit mit den Frauen macht, Karoline Mayer beschreibt es so: „Neben all dem Leid, das sie zu tragen hatten, waren sie auf einmal fähig, etwas anderes wahrzunehmen und sich daran zu freuen. Mit den Handarbeiten ist keine von ihnen reich geworden, natürlich nicht. Und doch ist dadurch in ihnen etwas gewachsen, was mit Geld nicht zu bezahlen ist.“ (S. 127).

Unser gemeinsames Ziel muss sein, diese Arbeit auch nach den Bedingungen eines internationalen Marktes so zu gestalten, dass sie angemessene Wertschätzung erfährt. Unter sozialen Bedingungen hergestellte Produkte haben einen anderen Preis. Sie sind diesen Preis wert. Auch diese Arbeit sollte aus sich selbst heraus Existenz sichern und ermöglichen. Gelebte Solidarität in der Einen Welt ist wichtig. Sie gehört wesentlich zu unserem Verständnis von Weltkirche. Und zugleich gilt: Soziale und human gestaltete Arbeit in Entwicklungsländern wirtschaftlich erfolgreich zu machen und fair zu behandeln, auch das kann ein wirksamer Weg sein, Armut zu bekämpfen.

 

IV.

Das Programm von Schwester Karoline findet sich im Lukasevangelium: „den Armen die frohe Botschaft, den Gefangenen Befreiung und den Blinden das Augenlicht zu verkünden und die Gequälten in die Freiheit zu entlassen“ (Lk 4,18). So wirken Sie! In über vierzig Jahren ist es Ihnen gelungen, Tausenden von Menschen in den Armenvierteln Santiagos, Brot, Kleidung, Arbeit, eine menschenwürdige Wohnung, Schutz vor Verfolgung, ärztliche Hilfe, eine Berufsausbildung zu geben. Das sind Menschen, die nur auf der Schattenseite gelebt haben, die im täglichen Überlebenskampf der Straße stehen, die mit Diebstahl, Gewalt und Alkoholismus aufgewachsen sind. Sie geben den Menschen Hoffnung für die Zukunft. Sie haben ihnen vorgelebt, dass wir nicht aufgeben dürfen zu hoffen auf die Nähe Gottes.

Ihre Berufung ist es, zu den Menschen zu gehen, zu den Ärmsten der Armen, zu jenen, die keine Chance, keine Perspektive, keine Zukunft und teilweise eine furchtbare Vergangenheit in Leid und Gewalt haben. So versteht Schwester Karoline Nachfolge. Und sie lässt sich von dieser Berufung nicht abbringen. Nicht von ihrer Familie. Nicht von ihrem Orden. Nicht von der Politik, dem Militär und den Mächtigen der Gesellschaft.

Christliches Leben ist christliche Nächstenliebe. Dieser Anspruch ist radikal. Und ebenso radikal ist das Leben von Schwester Karoline. Es ist konsequent gelebter Glaube. Sie wirkt in diese Welt hinein – so wie Jesus Christus es vorgelebt hat und den Menschen aufgetragen hat. Als Jesus in Nazareth seine Antrittspredigt hält, sagt er: „Ich bin gekommen zu verkünden das Evangelium den Armen.“ Unbeirrbar, radikal und kompromisslos im Anspruch, ohne Angst und in vollem Vertrauen auf Gott und seine Güte.

Sie selbst formulieren es so: „Dass die Menschen die Güte und vor allem die Menschenfreundlichkeit Gottes sehen, hören, fühlen können. Aber diese Güte kann ich nur erfahrbar machen, konkret werden lassen, wenn ich selber in dieser Güte lebe. Wenn ich Gott zu meinem Zentrum mache und aus ihm lebe, wenn ich Jesus als meinen Meister erkenne und mir von ihm den Weg zeigen lasse – dann kann ich den Menschen, die Hunger haben, krank sind oder verfolgt werden, konkret helfen. Und zwar so helfen, dass sie selber durch meine Hilfe etwas von Gottes Güte erfahren. Dann können die Menschen hier spüren, dass sie zwar im tiefsten Elend leben und dass die Gesellschaft sie für Abschaum hält, dass Gottes Verheißung aber trotzdem auch für sie gilt: Auch sie sind Kinder Gottes, auch für sie wünscht Gott sich nichts sehnlicher, als dass sie glücklich sind und es ihnen gut geht.“ (S. 191). Das ist keine Sozialarbeit. Das ist ein Weg zu Gott, der Menschen freimacht. Auch die Armen.

 

V.

Die Fortschritte, die wir beim Erreichen der Millenniumsziele gemacht haben, sind jetzt durch die Finanz- und Wirtschaftskrise gefährdet. Bis zu 100 Millionen Menschen sind in extreme Armut zurückgeworfen. Entwicklungsländer können auf internationalen Finanzmärkten keine Kredite mehr erhalten. Die Auslandsüberweisungen von im Ausland lebenden Familienangehörigen gehen zurück. Die ärmsten Länder in Afrika, Asien und Lateinamerika haben die Krise nicht verursacht. Aber sie sind unmittelbar existenziell bedroht. Diese Länder müssen in Zukunft besser an internationalen Prozessen, Gremien und Entscheidungen beteiligt werden.

Laut letztem UNICEF-Bericht müssen mehr als 150 Millionen Kinder zwischen fünf und vierzehn Jahren arbeiten und können deshalb nicht oder kaum zur Schule gehen. Mindestens eine Million Kinder sitzen in Gefängnissen, mehr als die Hälfte von ihnen ohne ordentliche Gerichtsverfahren. Mehr als 18 Millionen Kinder wachsen in Flüchtlingsfamilien auf. Mehr als eine Milliarde Kinder leben in Armut. Täglich sterben 25.000 Kinder.

Am 14. Oktober wurde der Welternährungsbericht der Vereinten Nationen vorgestellt: Die Zahl der Hungernden der Welt hat in diesem Jahr einen historischen Höchststand erreicht. Und sie nimmt schneller zu als je zuvor. Über eine Milliarde Menschen sind chronisch unterernährt. Millionen Menschen sind durch die weltweite Wirtschafts- und Finanzkrise unter die Armutsgrenze gerutscht. Gerade jetzt dürfen wir in der Entwicklungshilfe nicht sparen. Wir müssen alles tun, um die absolute Armut endlich zu beenden. Wir müssen die Logik der Ökonomie dann heilsam unterbrechen, wenn sie auf Kosten von Mensch und Schöpfung geht. Das widerspricht nicht der Marktwirtschaft, sondern setzt ihr einen sinnvollen Rahmen.

Wie es um das Wohl der ganzen Welt steht, das zeigt sich daran, wie die Schwächsten und die Armen leben. Verantwortung für die Armen übernehmen bedeutet für Schwester Karoline: Unrecht beenden. Es geht um die elementaren Rechte von Menschen: ihr Recht auf medizinische Versorgung und Ernährung, ihr Recht auf Bildung, ihr Recht auf freie Meinungsäußerung und auf die Beteiligung an politischen und gesellschaftlichen Prozessen.

Menschenrechte sind nicht teilbar zwischen den Armen und den Reichen dieser Welt. Und sie wirken konkret. Das ist der Ansatz von Schwester Karoline. Gottes- und Nächstenliebe gehören untrennbar zusammen. Die Menschen in den Armenvierteln haben ihren Platz nicht am Rande der Kirche, sondern in ihrer Mitte.

Für Schwester Karoline gibt es keine „fremden Menschen“. Sie ist maßlos in ihrer Menschenliebe. So wie sie es in ihrer Gottesliebe ist. „Unsere Menschenliebe ist das Maß unserer Gottesliebe. Für die Christen – und nicht nur für sie – gibt es keine fremden Menschen. Die Liebe Christi kennt keine Grenzen.”

 

Liebe Schwester Karoline,

herzlichen Glückwunsch zum Edith-Stein-Preis 2009. Ich freue mich sehr über diese Auszeichnung Ihres Wirkens seit Jahrzehnten.

Foto: Karl Grüner

Urkunde

weitere Fotos

Übergabe des Preisgeldes durch Heiner J. Willen (Foto: Karl Grüner )

Überreichung der Medaille durch Frau Dr. Mary Heidhues (Foto: Karl Grüner)

Dankworte der Preisträgerin

Foto: Karl Grüner

Schwester Karoline sprach frei. Ihr Redetext liegt uns deshalb nicht vor.    
Sie dankte für die Ehrung, beschrieb ausführlich die von ihr erkannte Aufgabe und zeigte, wofür sie das Preisgeld verwenden will.

Einladung zu Begegnung und Gespräch

Mit Getränken als Erfrischung war dann viel Zeit für Kontakte und Gespräche.

„Sr. Karoline Mayer 2009 “

16.11.2009

"Das Leid unzähliger Menschen verwandelt"

Schwester Karoline Mayer erhält Göttinger Edith-Stein-Preis

Schwester Karoline Mayer wurde für ihren Einsatz für die Ärmsten der Armen in Chile mit dem Göttinger Edith-Stein-Preis geehrt.  

Dechant Bernd Langer überreicht die Urkunde. 
Fotos: S. Behnke (© kpg) 

Göttingen (kpg) – „Es gibt viele Preise in Göttingen, aber der Edith-Stein-Preis ist ein besonderer: weil er sich an die wendet, die durch ihr Tun etwas verändern und uns mahnen, wie viel jeder tun kann und es doch oft unterlässt“, so der Bürgermeister der Stadt, Wilhelm Gerhardy, während seines Grußwortes bei der Verleihung des Edith-Stein-Preises im Alten Rathaus von Göttingen, den in diesem Jahr Schwester Karoline Mayer unter minutenlangem Applaus und stehenden Ovationen entgegennahm.

Denn die zierliche, immer strahlende 66-Jährige hat in ihrem Leben eine Menge getan: Seit 40 Jahren setzt sich die ehemalige Steyler Missionarin und Gründerin der Schwesterngemeinschaft „Communidad de Jesus“ in Santiago de Chile für die Ärmsten der Armen ein. Dort hat die in der Nähe von Eichstätt in Bayern geborene Mayer ein Sozialwerk gegründet, zu dem heute eine Obdachlosensiedlung für 200 Familien gehört, ein Berufsbildungszentrum für 600 Jugendliche, ein Reha-Zentrum für Drogenabhängige, Frauenbildungswerkstätten, Kindertagesstätten und als Herzstück ein Gesundheitszentrum, in dem jährlich 20 000 Patienten kostenlos mit moderner Medizin behandelt werden. „Sie haben das Leid unzähliger Menschen verwandelt, sie haben bewirkt, dass sie ihr Leben selbst in die Hand nehmen und sich nicht mit ihrer Armut abfinden müssen“, lobte Prof. Dr. Annette Schavan. Die Bundesministerin für Bildung und Forschung war aus Berlin gekommen, um die Laudatio auf Schwester Karoline zu halten. So sei ihr Wirken „in hohem Maße politisch“, weil es nicht nur eine ungewöhnliche Kraft entfalte, sondern Veränderung in den Köpfen und Herzen der Menschen bewirkt habe. „Das zeigt, dass Politik nicht im Parlament beginnt“, so Schavan.

„Ihre Liebe zu Gott und den Menschen kennt keine Grenzen“, bezog sich Schavan dann auf die Inschrift der Medaille mit dem Satz Edith Steins „Unsere Menschenliebe ist das Maß unserer Gottesliebe“, mit der Schwester Karoline geehrt wurde. Mit Edith Stein habe die diesjährige Preisträgerin einiges gemein, da waren sich die Rednerinnen und Redner des Abends einig. Am 12. Oktober 1971, dem Geburtstag Edith Steins, zieht Karoline Mayer ins Armenviertel von Santiago – „der glücklichste Tag meines Lebens“, wie sie später sagt. Und wie Edith Stein sei auch Schwester Karoline eine Frau mit einer vollkommenen inneren Freiheit, die sie ungeachtet aller Widerstände ihren eigenen Weg gehen ließ, so Dr. Katharina Seifert, die Präsidentin der Edith-Stein-Gesellschaft Deutschland. „So feiern wir heute Abend zwei Frauen, die für Bildung, Menschenrechte und Grenzüberschreitungen stehen“, so Heiner J. Willen, der Vorsitzende des Edith-Stein-Kreises.

Die Geehrte selbst gab sich bescheiden: „Ich bin keine Heldin“, sagte sie in ihrer Dankesrede. „Allein wäre ich vielleicht frustriert. Allein wäre das Elend und das Böse nicht durchzustehen.“ Ihr Antrieb sei es immer gewesen, den Menschen zu zeigen, dass Gott sie liebe, „so dass man es auch im Bauch spürt“. Denn Theologie sei nicht nur für den Kopf, sondern für den ganzen Menschen. Dabei strahlte sie über das ganze Gesicht. „Ihre strahlenden Augen“, so der Göttinger Dechant Bernd Langer schließlich bei der Preisübergabe, „sind ein Hinweis darauf, wie Gott auf die Menschen schaut.“


Der Edith-Stein-Preis
Der Edith-Stein-Preis erinnert an das Wirken der Heiligen Edith Stein, die von 1913 bis 1915 in Göttingen lebte, vom Judentum zum Katholizismus konvertierte und dennoch 1942 in Auschwitz durch die Nationalsozialisten ermordet wurde. Seit 1995 ehrt der Edith-Stein-Kreis mit seinem Preis Persönlichkeiten, Gruppierungen und Institutionen, die sich durch Grenzüberschreitungen in ihrem sozialen, politischen und gesellschaftlichen Engagement ausgezeichnet haben. Die Auszeichnung besteht aus einer Medaille mit der Inschrift „Unsere Menschenliebe ist das Maß unserer Gottesliebe“ und einem Preisgeld von 5 000 Euro, das in Absprache mit dem Geehrten einer Einrichtung gespendet werden soll.

Die Preisträgerin
Schwester Karoline Mayer wurde 1943 in der Nähe von Eichstätt geboren. Kurz nach dem Abitur tritt sie dem Steyler Missionsorden bei. Seit 1968 lebt sie in Santiago de Chile. Dort lässt sich die Ordensfrau zur Krankenschwester ausbilden. Als der Orden sie im Zuge der politischen Unruhen im Land zurück nach Deutschland beordert, verlängert sie ihre Gelübde nicht. Sie gründet die Schwesterngemeinschaft „Communidad de Jesus“, zieht 1971 mit einer Mitschwester in die Armenviertel Santiagos und beginnt mit dem Aufbau eines Sozialwerks für die notleidende Bevölkerung. Sie leistet passiven Widerstand gegen die Militärdiktatur und wird 1976 verhaftet und verhört. Unterstützt wird die Arbeit von einem breiten europäischen Freundesnetz. Für ihren Einsatz wurde Schwester Karoline Mayer mehrfach ausgezeichnet, unter anderem mit der Kardinal-Frings-Medaille der Erzdiözese Köln, dem Verdienstorden des Landes Baden-Württemberg und dem Bundesverdienstkreuz.

 

Wir bedanken und ganz herzlich für die Erlaubnis zur Übernahme von Fotos und Text, bei Stefanie Behnke, Katholische Pressearbeit Dekanat Göttingen.